1983

Der Zerrissene

Autor: Johann Nepomuk Nestroy Regie: Hanspeter Müller Bühnenbild: José de Nève

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In den vielen Panikszenen, die Nestroy in diesem Stück beschrieben hat, wird dem Zuschauer das zum Gelächter freigegeben, was ihn ausserhalb des Theaters das freie Lachen gefrieren macht. Ein für Nestroys Komik typisches Verfahren besteht darin, die «Helden» durch Irrtümer und Zufälligkeiten in fürchterliche Schrecken zu versetzen.
«Der Zerrissene» ist ein Paradebeispiel für die spektakuläre theatralische Darstellung von Verfolgungsängsten. Nestroy lässt seine Figuren vor dem wissenden und lachenden Publikum von einem Notstand in den andern fallen. Geld und Karriere sind für viele Figuren die einzigen Massstäbe des Handelns. Der reiche Herr von Lips weiss nicht mehr, wie er sich Freude und Lebensinhalte verschaffen soll. Unterstützt von seinen parasitären Freunden entschliesst er sich, mit dem Schicksal zu spielen, und die erste Frau, die sein Haus betritt, zu heiraten. Der Diener Anton meldet Madame Witwe von Schleyer. Diese wollte eigentlich Herrn von Lips nur ein Ballbillett verkaufen, lässt sich aber auch dazu überreden, Herrn von Lips zu heiraten. Soweit wäre alles in Ordnung. Doch der Zufall bringt es mit sich, dass der ehemalige Verlobte der Madame Schleyer, der feurige Schlosser Gluthammer, hier endlich seine verschwundene Geliebte in den, wie er glaubt «räuberischen» Armen des Herrn von Lips findet. Ein Streit entbrennt und ein folgenschweres Unglück lässt nicht lange auf sich warten...

Nestroy heute - Gedanken zur Inszenierung

Gott, was sind das für Zeiten! Die Welt ist voll Unruhe, alles drunter und drüber, und doch weiss man nichts Gewisses! Man müsste ein Nestroy sein, um all das definieren zu können, was einem undefiniert im Wege steht!
(Ödön von Horvath)

Gibt es einen Nestroy «heute»? Kann man seine Stücke für uns hier und heute spielen oder ist er exotisch fern? Nestroys Stücke erfüllen jedem Zuschauer einen Wunsch: Handfeste Situationskomik wechselt ab mit funkelnd brillanten Geistes blitzen. Wirklichkeit und Wahrheit geraten sich vielfach geradezu in die Haare. In vielen Stücken Nestroys tritt jeweils eine Figur auf (z. B. Herr Lips), die den grossen Durchblick hat, auch noch sich selbst gegenüber. Im Gegensatz zu andern Figuren, die ihre Schwächen und Ehrgeize verheucheln, um so sich und die Mitmenschen hinters Licht zu führen: «Ich glaube von jedem Menschen das Schlechteste, selbst von mir, und ich hab’ mich noch selten getäuscht.»

(Nestroy)

Nestroy auf der Volksbühne bedeutet für mich samt den obengenannten sympathischen Vorzeichen ein Wagnis. Gilt es doch auch, die feinen Raffinessen der Sprache und des Wortwitzes durchschaubar zu machen für den Zuschauer. Ich möchte versuchen, dieses schillernde Stück «Der Zerrissene» ebenso mannigfaltig auf der Stanser Bühne umzusetzen. Salonkomödie und einfaches typenhaftes Volkstheater mit Zwischentönen und kräftigen Farbstrichen.
Erstmals nach langer Zeit wird auf der Stanser Bühne wieder einmal gesungen. Herr von Lips macht sich trällernd seine «musikalischen» Gedanken zur Welt und zu den Menschen, die sie bevölkern. Die Musik ist in der Aufführung integriert und hilft mit, die Athmosphäre des Possenspiels zu definieren.
Die Geschichte des «Zerrissenen» beweist auch heute ihre Aktualität. Überschüttet mit Konsumgütern und Angeboten aus der überorganisierten Welt, die wir uns selber geschaffen haben, suchen auch wir nach Grenzen und Auswegen.
Vielleicht trägt Netroys Happy-End-Komödie dazu bei, mit lachendem Herzen über unsere verschiedenen «Zerrissenheiten» nachzudenken

Hanspeter Müller